Jüngere Entscheidungen von den drei verschiedenen Instanzen des EPA haben weitreichende Auswirkungen auf die Patentfähigkeit von Erfindungen nach europäischem Patentrecht. Alle betreffen die im Einspruchsverfahren zu beurteilende Gültigkeit von Patenten. Die Anmelder sollten sich der Folgen dieser Entscheidungen bewusst sein. Vermeidbare Fehler bei der Einreichung europäischer Anmeldungen und auch schon zuvor können später den Verlust des Patents zur Folge haben.

1. EPA, Große Beschwerdekammer, Entscheidung vom 29. November 2016, Az. G 1/15, ABl. EPA 2017, A82 – Infineum USA L.P. v Clariant Produkte (Deutschland) GmbH

Vor der Entscheidung G 1/15 der Großen Beschwerdekammer des EPA (GBK) verursachten divergierende Auffassungen in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern erhebliche Unsicherheit über die Anwendung von Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ auf Teilprioritäten. Eine Linie der Rechtsprechung legte die vorangegangene Entscheidung G 2/98 der GBK dahin aus, dass eine Teilpriorität nur wirksam beansprucht sei, wenn der betreffende Anspruch alternative Ausführungsforme umfasse, von denen eine oder mehrere einzelne von der Priorität gedeckt sein konnten, andere aber nicht. Dagegen erkannten diese Entscheidungen die Wirksamkeit einer Teilpriorität nicht an, wenn der in der Prioritätsanmeldung offenbarte Gegenstand in der europäischen Nachanmeldung mit dem Prioritätsanspruch in allgemeiner Form (z. B. definiert durch einen breiteren Bereich) beansprucht war. 

Dies hatte zur Folge, dass eine europäische Patentanmeldung als in Anspruch genommene Prioritätsanmeldung der europäischen Nachanmeldung hinsichtlich eines allgemeiner definierten Anspruchs nach Artikel 54 (3) EPÜ neuheitsschädlich entgegenstehen konnte. In der Entscheidung Nestec v Dualit [2013] EWHC 923 (Pat) folgte auch der Patents Court für England and Wales dieser Auffassung. Sie führte auch zum Problem der sogenannten "poisonous divisionals". In der Entscheidung T 1496/11 vom 9. September 2012, kam die Beschwerdekammer 3.2.05 zu dem Ergebnis, dass eine in einer Teilanmeldung offenbarte Ausführungsform einen generisch definierten Anspruch der Stammanmeldung vorwegnehmen konnte. Wenngleich diese Entscheidung nicht von anderen aufgenommen wurde und vereinzelt blieb, verstärkte sie doch die schon bestehende Rechtsunsicherheit und machte die Beratung der Anmelder über den Umgang mit dem Instrument der Teilanmeldung schwierig. 

In G 1/15 befand die GBK, dass diese restriktive Praxis keine Grundlage im Übereinkommen und der Pariser Verbandsübereinkunft habe. Sie beantwortete die gestellten Fragen wie folgt und stellte damit die wünschenswerte Rechtssicherheit wieder her: 

Das Recht auf Teilpriorität für einen Anspruch, der aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch), kann nach dem EPÜ nicht verweigert werden, sofern diese alternativen Gegenstände im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit –, eindeutig und ausführbar offenbart sind. Andere materiellrechtliche Bedingungen oder Einschränkungen finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung. 

2. EPA, Technische Beschwerdekammer 3.3.07, Entscheidung vom 9. November 2017, Az. T 282/12 – Coated tablets/JOHNSON & JOHNSON

Es war vorauszusehen, dass die Definition in G 1/15, welcher Gegenstand eine Teilpriorität begründen kann, nicht ohne Auswirkungen auf die Beurteilung bleiben konnte, welche Anmeldung als erste Anmeldung anzusehen ist, die nach Artikel 87 (1) EPÜ - entsprechend Artikel 4A(1) der Pariser Verbandsübereinkunft - als prioritätsbegründend in Anspruch genommen werden kann.

Im Fall T 282/12 war der streitige Anspruch auf eine beschichtete Tablette gerichtet. Ein Merkmal betreffend ihren Aufbau war durch einen Bereich von 3 % bis 33 % einer bestimmten Länge definiert. Dieser Bereich war in der US continuation-in-part Anmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen war, für dieselbe Tablette offenbart. Eine frühere US Anmeldung, deren Fortsetzung die continuation-in-part Anmeldung war, hatte jedoch schon einen engeren Bereich von 5 % bis 33 % und alle anderen Merkmale der Tablette offenbart. Daher ließ schon diese frühere Anmeldung ein Prioritätsrecht für die Tablette mit dem Merkmal für den engeren Bereich entstehen.

In Anwendung des in G 1/15 festgestellten Grundsatzes befand die Kammer, dass der beanspruchte Gegenstand gedanklich in zwei Teile zu aufzuspalten sei, d. h. in einen für den Bereich 3 % bis 5 %, der die Priorität der continuation-in-part Anmeldung genießt, die diesen Teilbereich erstmals offenbart, und in einen für den Bereich, 5 % bis 35 %, der kein Prioritätsrecht genießt. 

Da eine offenkundige Vorbenutzung für den Wert 17 %, der innerhalb des Bereichs ohne gültigen Prioritätsanspruch lag, geltend gemacht worden war, verwies die Kammer den Fall zur Prüfung der Vorbenutzung an die Einspruchsabteilung zurück.

3. EPA, Einspruchsabteilung betreffend das europäische Patent 2 771 468, schriftliche Entscheidung vom 26. März 2018 – The Broad Institute, Inc. et al. v Schlich, George et al.

Das Streitpatent betrifft einen wesentlichen Aspekt der CRISPR Technologie zur Veränderung genetischer Information. Die Entscheidung, die eine geltend gemachte Priorität aus einer US provisional Anmeldung als unwirksam ansieht, ist zwar nur eine Entscheidung erster Instanz, gleichwohl hat der in der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 2018 verkündete Widerruf des Patents zu zahlreichen Kommentaren in Blogs und anderenorts geführt. Die Patentinhaber reagierten mit einer Pressemitteilung, in der sie die Position vertreten, die Entscheidung sei auf eine technische Formalität" gegründet und stehe im Widerspruch zu internationalen Verträgen. Sie legten sofort Beschwerde ein und erwarten, dass die Beschwerdekammer das Problem nicht nur für die betroffenen CRISPR Patente löse, sondern auch in weiterem Umfang für europäische Anmeldungen und Patente, in denen Prioritäten aus US provisional Anmeldungen beansprucht seien. 

Das europäische Patent wurde auf eine Euro-PCT Anmeldung erteilt, die Prioritäten aus 12 US provisional Anmeldungen beanspruchte. Nicht alle Anmelder der provisional Anmeldungen wurden in der PCT Anmeldung als Anmelder genannt und die zu entscheidende Frage war, ob dies die Wirksamkeit einiger Prioritäten ausschloss. 

In ihrem abschließenden Vortrag beriefen sich die Patentinhaber auf drei verschiedene Begründungen für die Wirksamkeit der Prioritäten:

(i) Fehlende Zuständigkeit des EPA, das Recht auf die Priorität zu prüfen

Die Patentinhaber vertraten den Standpunkt, die Prüfung des Rechts auf die Priorität falle in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte. Überdies solle nur der wahre Berechtigte befugt sein, das Recht auf die Priorität zu bestreiten. 

Die Einspruchsabteilung kommt zum Schluss, das EPA habe nach Artikel 87 bis 89 EPÜ die Wirksamkeit der Priorität zu prüfen, um die Voraussetzungen der Patentierbarkeit prüfen zu können. Es könne sich nicht einfach auf die Erklärungen des Anmelders über das Recht auf die Priorität verlassen, um den einschlägigen Stand der Technik zu bestimmen. Vielmehr habe es zu prüfen, ob der Anmelder der europäischen Patentanmeldung der Anmelder der ersten Anmeldung oder sein Rechtsnachfolger ist. Dies sei in Einklang mit der ständigen Praxis und Rechtsprechung des EPA sowie mit den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ.

(ii) "Jedermann" im Sinn von Artikel 87(1) EPC ist jeder aus einer Mehrheit von Mitanmeldern der ersten Anmeldung

Nach dem Vorbringen der Patentinhaber ist es der Sinn des Prioritätsrechts, dem Anmelder bei der Erlangung internationalen Patentschutzes zu helfen. Das könne nur bedeuten, dass jedem einzelnen von mehreren Mitanmeldern der Erstanmeldung ohne Unterschied zu helfen sei. Die Interessen Dritter seien hinreichend durch das Erfordernis "derselben Erfindung" geschützt. 

Die Einspruchsabteilung folgt dem im Ergebnis nicht. Der Text des Übereinkommens ("Any person", "Jedermann", "Celui qui") gebe keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob im Falle von Mitanmeldern "alle Anmelder" oder "jeder von ihnen" gemeint sei, wenngleich die französische Fassung für die engere Auslegung spreche. Auch die travaux préparatoires zur PVÜ seien nicht eindeutig. Eine Stütze dafür, dass alle Anmelder gemeint seien, finde sich allerdings in den ersten Kommentaren zur PVÜ wie auch in der Praxis und Rechtsprechung des EPA und der nationalen Gerichte. Die Einspruchsabteilung erörtert, ob die Beanspruchung der Priorität als ein Akt der Verwertung angesehen werden könne, der die anderen Mitanmelder nicht ausschließt. Sie bemerkt aber, dass eine solche Handhabung die weitreichende Folge einer Vervielfachung von Schutz für denselben Inhalt nach sich ziehe. Jedenfalls lägen keine außergewöhnlichen Umstände vor, um von der in den Richtlinien und der ständigen Rechtsprechung etablierten Praxis abzuweichen, nach der das Prioritätsrecht von allen Mitanmeldern der Erstanmeldung auszuüben sei. 

(iii) Jedermann, "der vorschriftsmäßig eingereicht hat" – nach US-Recht zu bestimmen 

Nach US-Recht ist als Person, die eine provisional Anmeldung vorschriftsmäßig eingereicht hat, als derjenige zu verstehen, der zu der in der Nachanmeldung beanspruchten Erfindung einen Beitrag geleistet hat. Daraus und unter Berücksichtigung der Tatsachen, dass im vorliegenden Fall die US provisional Anmeldungen mehrere Erfindungen offenbaren und dass nicht alle Erfinder/Anmelder der provisional Anmeldungen zu den in der PCT Nachanmeldung beanspruchten Erfindungen beigetragen haben, leiten die Patentinhaber her, dass es nach US-Recht zu beurteilen sei, wer die Erstanmeldung vorschriftsmäßig eingereicht hat".

Die Einspruchsabteilung ist anderer Auffassung. Nach der PVÜ sei nationales Recht nur für die Feststellung maßgebend, ob die erste Anmeldung die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Anmeldetags erfülle. Für diese Prüfung bestehe keine materielle Voraussetzung in dem Sinne, dass dem Erstanmelder ein Recht an der Erfindung zustehen müsse. Dies sei in Einklang mit Artikel 5 des Patent Law Treaty, der kein Recht an der Erfindung für den Patentanmelder vorschreibe. Der von den Patentinhabern herangezogene Artikel 8(2)(b) PCT sei im vorliegenden Zusammenhang nicht einschlägig, da er interne Prioritäten betreffe; hier gehe es aber um Konventionsprioritäten, für die Artikel 8(2)(a) PCT auf die PVÜ verweise. Nach der PVÜ und dem EPÜ entstehe das Prioritätsrecht aus dem formalen Akt der Einreichung einer ersten Anmeldung, und zwar unabhängig von der Stellung des Erfinders. 

Anmerkungen

Dies ist nicht der Ort, um die Aussichten der Beschwerde im Fall CRISPR zu erörtern, aber es steht zu erwarten, dass die Patentinhaber weder Aufwand noch Kosten scheuen werden, um eine Aufhebung der angegriffenen Entscheidung zu erreichen. Die elektronische Akte des EPA soll schon 42 000 Seiten umfassen. Möglicherweise wird eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ins Spiel gebracht und eine Vorlage an die GBK beantragt. 

Die gegenwärtigen Probleme haben ihre Ursache darin, dass man das System der provisional Anmeldung, die in den USA eine innere Priorität begründet, nicht in Analogie zur Priorität nach der PVÜ konzipiert hat. Vielmehr waren Besonderheiten des US Ersterfinderprinzips die maßgebenden Faktoren für die Ausgestaltung. Nach der ursprünglichen Gesetzeslage von 1995 konnte auf eine provisional Anmeldung nicht einmal ein Patent erteilt werden. Daraus ergaben sich Zweifel, ob eine provisional Anmeldung eine "Anmeldung für ein Patent" im Sinne von Artikel 4A(1) PVÜ war (siehe die Mitteilung des Präsidenten des EPA in ABl. EPA 1996, 81). Erst in der Folge wurde dieses Problem mit der Möglichkeit bereinigt, eine provisional in eine regular application umzuwandeln (35 U.S.C. § 111b(5), Satz 2). Gleichwohl bleibt das System der provisional Anmeldung verknüpft mit Fragen der Erfinderschaft, die außerhalb des Anwendungsbereichs der PVÜ liegen. Wenngleich die PVÜ den Staaten die Freiheit lässt, wie sie ein System innerer Prioritäten gestalten, so können doch nationale Vorschriften über innere Prioritäten nicht das Recht der Konventionspriorität in Artikel 4 PVÜ ändern. 

Die Benutzer des europäischen Patentsystems, die nicht den Optimismus der Patentinhaber über den Ausgang des Beschwerdeverfahrens teilen, sind daher gut beraten, frühzeitig in geeigneter Weise für den Fall vorzusorgen, dass ihr Prioritätsrecht relevant und streitig wird. Es bestehen zwei alternative Wege:

a) Alle Anmelder der ersten Anmeldung bleiben Anmelder in der Anmeldung, in der die Priorität in Anspruch genommen wird. Eine Übertragung findet erst nachher statt. In der internationalen Phase einer internationalen Anmeldung werden die Angaben über den oder die Anmelder auf Antrag nach Regel 92bis PCT berichtigt.

b) Sind dagegen nicht mehr alle Anmelder der Erstanmeldung auch Anmelder der Nachanmeldung, so haben alle ausgeschiedenen Mitanmelder der Erstanmeldung ihr Prioritätsrecht auf zumindest einen der Anmelder der Nachanmeldung vor deren Einreichung zu übertragen. Diese Übertragungen sind nach den Erfordernissen des anwendbaren nationalen Zivilrechts zu dokumentieren und geeignete Nachweise sind verfügbar zu halten.

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